Perfektionismus ist ein attraktives Laster

Wer nach Perfektion strebt ist zugleich zuverlässig, gewissenhaft und fleißig. Tugenden, die in unserer Leistungsgesellschaft nicht nur persönliche Anerkennung, sondern auch finanzielle Vergütung finden.
Schwierig wird es für Sie erst dann, wenn Sie Ihren Anspruch absolut setzen, ihn unhinterfragt und überall befolgen. Jetzt stecken Sie in der Perfektionismusfalle.
– Wie Sie den Weg heraus finden, beschreibe ich im folgenden Blogbeitrag.

Der Perfektionismus ist in Elternhaus und Schule gewachsen Eltern sind Sprachrohr und Spiegel gesellschaftlicher Normen und Werte. So ist es nicht verwunderlich, dass es in einer Leistungsgesellschaft zunehmend Eltern gibt, die Ihre wenigen „Wunschkinder“ durch mannigfaltige Förderung zu Spitzenleistungen erziehen möchten.
Der Präsident des deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, diagnostiziert den heutigen Eltern einen „…übersteigerten, ja als narzisstisch zu bezeichnenden Perfektionismus, der gekennzeichnet ist, durch Zwanghaftigkeit, latente Selbstzweifel, Dünnhäutigkeit der Eltern gegenüber kleinsten Versäumnissen. Vor allem aber durch überhöhte Erwartungen.“ (zitiert nach Ursula Nuber, in Psychologie heute, 01/2015, S.22)
In die gleiche Richtung zielt die Erziehung in unseren Schulen, wenn, so meine persönliche Erfahrung als Vater, Punkte abgezogen werden, wo die Handschrift über den Heftrand weist oder der Kästchenabstand zwischen den Zeilen nicht den Vorgaben des Lehrers entspricht.
Beim Kind entsteht im Laufe der Zeit der Eindruck, dass es als Person von Erwachsenen nur dort Anerkennung und Liebe zu erwarten hat, wo es Außergewöhnliches, Akkurates und Bewundernswertes leistet. So wird der Selbstwert an die Bedingung der Leistung geknüpft und es entsteht die existenzielle Angst, Liebe und Anerkennung entzogen zu bekommen, wenn die hohen Erwartungen des Umfelds nicht erfüllt werden können.
„Das Vorbild der Eltern und ihre Reaktionen auf Leistungen oder Versagen hat das kindliche Gehirn ungeprüft gesammelt und im ‚Eltern-Ich‘ abgespeichert.“, resümiert Ursula Nuber im oben zitierten Artikel (S. 21).
Die in der Kindheit entwickelte existenzielle Not als Person Liebe und Anerkennung entzogen zu bekommen, wenn die Leistung nicht stimmt, bleibt im Erwachsenenalter oft ungeprüft erhalten. Sie wirkt wie ein diffuses Gefühl, ein Antreiber, dessen Motiv im verborgenen scheint und der nur hin und wieder in quasi automatischen Gedanken als unerbittlicher Kritiker erkennbar wird.

Welche Bedürfnisse und welche Entwicklungschancen stehen hinter dem Selbstanspruch nach Perfektion?
Prof. Gert Kaluza beschreibt die Entwicklungschancen des Perfektionisten in einem Entwicklungsquadrat (vgl. ebds. in: „Gelassen und sich im Stress“, 2012, S.137):

Erläuterung der Grafik im Text: Hiernach geht es beim Perfektionisten um das Bedürfnis nach Anerkennung durch akkurate Leistungen und zugleich um die ängstliche Vermeidung von als „Nachlässigkeit und Schlamperei“ empfundener Fehlertoleranz. Die größten Entwicklungschancen sieht G. Kaluza in der Einübung der Fehlertoleranz, der Fähigkeit, vor sich selbst und anderen auch fehlbar sein zu können.
Jeder als Antreiber wirkende Selbstanspruch steht im Spannungsfeld komplementärer Tugenden und entwertender Übertreibungen. Die Auseinandersetzung mit den in Kindheit und Jugend erworbenen, überhöhten Selbstansprüchen muss dahin gehen, das Tugendhafte (hier: Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit) zu erhalten und die entwertende Übertreibung (hier: Perfektionismus, Pedanterie) zu relativieren. – So betrachtet, ist der Selbstanspruch zur Perfektion nicht grundsätzlich schlecht. Er ist nur in seiner absoluten Formulierung als überall geltender Anspruch nicht immer hilfreich. Das führt uns zum nächsten Schritt:

Was können Sie tun, um Ihren Stressverstärker „Sei perfekt!“ in Eigenarbeit zu relativieren, um Lebensqualität zurück zu gewinnen?
Der psychologische Prozess der Relativierung eines Stressverstärkers zielt auf eine persönliche Stellungnahme des Erwachsenen gegenüber dem verinnerlichten, kritischen „Eltern-Ich“ ab.
Nach Ursula Nuber sind im Artikel „Schluss mit der Selbstkritik“ (Psychologie heute, 01/2015, S.24f) die folgenden Schritte zu gehen, um diese Stellungnahme aus dem „Erwachsenen-Ich“ heraus zu leisten:

  1. Den Richter erkennen und dadurch enttarnen:
    Sichtbar wird der innere Kritiker in Selbstgesprächen, Scham- und Schuldgefühlen oder körperlichen Beschwerden wie Migräne, Rücken- und Magenschmerzen etc.
    Dokumentieren Sie diese Situationen für mindestens 14 Tage schriftlich und beobachten Sie, welche Bewertungen der innere Kritiker in Leistungssituationen ausspricht.
  2. Den Richter hinterfragen
    Beginnen Sie damit, die dokumentierten oder innerlich wahrgenommenen Aussagen des inneren Kritikers auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen: Haben Sie wirklich versagt, weil Sie einen Teil der To-do-Liste nicht abgearbeitet haben? Oder haben Sie sich vielleicht in der Kürze der Zeit einfach zu viel vorgenommen? Und sind Sie deshalb gleich ein Versager? – Welche Bezeichnung wäre treffender?
  3. Sich gegen den Richter wehren
    Wenn es Ihnen gelungen ist, alternative, weniger Selbstwert gefährdende Bewertungen zu finden, so ist es an der Zeit, die Entwertungen Ihres inneren Kritikers auszubremsen. Rufen Sie innerlich „Stopp!“, wenn der Kritiker sich in unfairer Weise zu Wort meldet  und ergänzen Sie „Hör auf damit! Ich dulde es nicht länger, dass Du mir Wahrheiten an den Kopf wirfst, die mit meiner Realität nichts zu tun haben!“

Alles in allem geht es bei der Relativierung des Stressverstärkers „Sei perfekt!“ um eine aktive, bewusste Auseinandersetzung mit den Bewertungen, die sie als Kind, Jugendlicher, Adoleszent gesammelt und verinnerlicht haben.

Schema zur mentalen Realtivierung des Perfektionismus: Es geht darum, in einem Akt der Selbsterziehung, alternative Bewertungen für Ihre Leistungen zu finden, die es erlauben, Ihre persönliche Fehlertoleranz schrittweise zu erhöhen.

Erläuterung der Grafik im Text:

  1. Fragen Sie sich und notieren Sie zugleich: „Welche Gewinne ziehe ich aus dem Anspruch immer und überall eine perfekte Leistung abzugeben?“
  2. Notieren Sie danach: „In welchen Situationen möchte ich den Anspruch – zumindest in seiner Tugend ‚Gewissenhalftigkeit/Genauigkeit‘ – beibehalten?“
  3. Fragen Sie sich dann und notieren Sie wieder: „Welche persönlichen Kosten erlebe ich, wenn ich dem Perfektionsdrang immer und überall folge?“
  4. Notieren Sie danach: „In welchen Situationen möchte ich den Anspruch – zumindest in seiner entwertenden Übertreibung – zukünftig verwerfen?“

Alternative Bewertungen finden
Überlegen Sie im Anschluss noch einmal schriftlich für alle Situationen, in denen Sie zukünftig Ihrem Perfektionsstreben nicht mehr nachkommen wollen:

  • „Was möchte ich stattdessen denken? – Welcher Anspruch würde den Situationen gerechter, wäre hilfreicher oder realistischer?“

Übung macht den Meister
Dieser Grundsatz gilt im Besonderen für die Relativierung von über Jahren eingeübten Denkmustern. – Suchen Sie sich entsprechend Ihrer Entwicklungschance „Fehlertoleranz erhöhen“ Übungssituationen, in denen Sie beispielsweise eine Arbeit weniger akkurat abgeben, ein Versprechen nicht perfekt einhalten oder in einer E-Mail Rechtschreibfehler zulassen.

Vorsicht! Diese Übungen gelingen nur, wenn es Ihnen gelungen ist, im Vorfeld hilfreiche und realistische Gedanken zu formulieren, die Sie Ihrem inneren Kritiker erfolgreich entgegensetzen konnten. – Sollten Sie in Ihren selbst gewählten Übungen scheitern, so suchen Sie sich bitte professionelle Hilfe. Denn – und dieser Spruch stimmt für die  Arbeit am Selbstanspruch genauso: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“.

Wolfram Krug